LRS/Legasthenie und Englisch

Von Günther Nieberle

Häufig werden bei Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) und Legasthenie bereits im spielerischen Englischunterricht in der Grundschule Probleme sichtbar. Aussprache, Verschriftung und vor allem Speicherung der englischen Wörter sind für sie schwierig. Die Schwierigkeiten verstärken sich in der 5. Jahrgangsstufe, wo auch Schreiben und Lesen benotet werden. Für viele dieser Kinder entwickelt sich das Fach Englisch zu einer ernsten Bedrohung ihrer Schullaufbahn.

Neue Herausforderungen durch die Fremdsprache Englisch

Das Erlernen der Fremdsprache Englisch verlangt unter anderem die folgenden Leistungen:

  • Neue Sprachlaute müssen auditiv verarbeitet und reproduziert werden.
  • Es ist ein neues Schriftsystem zu erlernen, das von der vertrauten Laut-Buchstaben-Zuordnung der Muttersprache in vielen Punkten abweicht.
  • Die englischen Sprachlaute sind gegen ähnlich klingende deutsche Laute abzugrenzen und mit den entsprechenden Buchstaben zu verknüpfen. Andere, aus der Muttersprache vertraute Laute müssen anders geschrieben werden als im Deutschen. Regeln zur Orientierung in der Vielfalt der Laut-Buchstabenverbindungen scheint es nicht zu geben.
  • Hinzu kommen eine große Zahl unterschiedlicher Schreibweisen für ein- und denselben Laut, silent letters, Homophone, Sonderschreibweisen, Ausnahmen usw.
  • Englische Laute werden häufig durch mehrgliedrige Grapheme wiedergegeben. Dies erfordert einen ganzheitlicheren Leseprozess als im Deutschen
  • Die Grammatik weicht stark von den Strukturen der Muttersprache ab.
  • Für das Vokabellernen bedarf es neuer, zuverlässiger Lernstrategien.

„My spelling is wobbly. It’s good spelling but it wobbles and the letters get in the wrong places.“   A.A: Milne Winnie the Pooh

Bei LRS und Legasthenie sind Wahrnehmungs- und Kognitionsleistungen oft noch nicht in dem für das Erlernen der Fremdsprache nötigen Maß automatisiert. Kinder mit Teilleistungsschwächen

  • verarbeiten die Laute langsam und oft fehlerhaft
  • haben Schwierigkeiten mit der Lautunterscheidung
  • schreiben lange Zeit noch Mischformen aus Deutsch und Englisch
  • können sich “kleine Wörtchen” nicht merken
  • vergessen Gelerntes schnell wieder
  • produzieren, v.a. unter Zeitdruck, eine Vielzahl von Rechtschreibfehlern
  • lesen langsam und fehlerhaft
  • verwechseln grammatische Strukturen
  • können sich Vokabeln trotz Beachtung der üblichen Lerntipps nur schwer merken
  • entwickeln eine Abneigung gegen das Fach Englisch: “Ich hasse Englisch!”.

Daneben kommt es bei länger anhaltenden Misserfolgen zur Ausbildung (bzw. zum Wiederaufleben) der typischen psychischen Symptomatik: Verweigerung, Rückzugsverhalten, Aggressivität und familiäre Konflikte.

Einzelne der oben genannten Merkmale eines durch LRS/Legasthenie belasteten Fremdspracherwerbs kommen auch bei Kindern ohne LRS im Verlauf des Englischlernens vorübergehend vor. Bei lese-rechtschreibschwachen Kindern liegen im Unterschied dazu mehrere dieser Merkmale gleichzeitig und trotz intensiven Übens in der Regel dauerhaft vor.

Zur Kompensation der typischen Lernprobleme im Englischen wurden in der Regensburger Lerntherapeutischen Praxis die folgenden Strategien und Materialien entwickelt und erprobt. Von dem Modell „Nachhilfe“, sofern sie sich als reine Nachbereitung des schulischen Unterrichts versteht, unterscheidet sich dieses Vorgehen nicht hinsichtlich des Zieles „Lernerfolg“, sondern vielmehr hinsichtlich professioneller Skepsis bezüglich des Umfangs und der Tiefe notwendiger Maßnahmen. Anders ausgedrückt: Vielfach sind die Englischprobleme der Schülerinnen und Schüler mit LRS/Legasthenie, umfassender, als dass die bloße Orientierung am aktuellen Schulstoff hinreichend wäre.

Eine gründliche Bestandsaufnahme zu Beginn der Lernförderung gibt Hinweise auf Umfang und Tiefe notwendiger Maßnahmen.

Förderdiagnostik

Zunächst steht auch bei Englischproblemen eine qualitative Diagnostik der individuellen Stärken und Schwächen am Anfang der Förderung. Die Auswertung der folgenden Quellen ergibt das Gesamtbild des Standes der individuellen Kompetenz:

  • Tests/Schulaufgaben/Schriftproben aus dem laufenden Unterricht
  • Ein informeller Lesetest, der anhand von Texten aus dem verwendeten Schulbuch durchgeführt wird; das kann ggf. ein Text aus der vorherigen/einer früheren Jahrgangsstufe sein

Um einen Einblick in Lücken im Lernstoff der bisherigen Schulzeit zu gewinnen, wird etwa ab dem letzten Drittel des ersten Lernjahres der Test Basiskompetenzen Englisch I eingesetzt. Er gibt Auskunft über den Stand des Schülers/der Schülerin in wesentlichen grundlegenden Bereichen:

  1. Stärken und Schwächen in der Grammatik
  • Wortstellung in englischen Sätzen
  • Bildung von Aussage- und Fragesatz
  • Bildung der folgenden Zeiten im Englischen: Simple Present, Present Progressive, Simple Past

      2. Kenntnis grundlegender englischer Vokabeln

  • Aussprache der Englischvokabeln
  • Lücken im Wortschatz in der Lernrichtung Englisch-Deutsch
  • Lücken im Wortschatz in der Lernrichtung Deutsch-Englisch

       3. Rechtschreibung im Englischen

Kompensatorische Englischförderung

Auf der Grundlage des Gesamtbildes der Diagnostik kann der Förderplan erstellt werden. Die Förderung arbeitet in der Regel nicht isoliert auf einem Gebiet, also z.B. nur an der Grammatik, am Wortschatz oder am Rechtschreiben, sondern integriert Maßnahmen aus den oben genannten Teilbereichen.